Und trotzdem stellt sich die Frage, ob wir angesichts der vielen Gedenktage nicht auch abstumpfen?

In der letzten Wochenendausgabe der Nürnberger Nachrichten greift Michael Husarek dieses Thema sehr treffend auf:

Alleine im Jahr 2019 der Gedenktag zu 30 Jahre Mauerfall, 81 Jahre Progromnacht, 70 Jahre Grundgesetz, 100 Jahre Weimarer Verfassung.

Er befürchtet gar eine „Gedenkmüdigkeit“ und zeigt Verständnis, wenn die Menschen von rückwärtsgewandten, mit sonorer Stimme vorgetragenen Festvorträgen, die Nase voll haben.

Und er hat Recht, wenn er anprangert, dass das vielerorts zelebrierte Gedenken an geschichtsträchtige Ereignisse mit Kranzniederlegungen zu einem bloßen Ritual verkommt, deren tieferen Sinn niemand mehr hinterfragt.

Er mahnt deshalb, dass das Gedenken nur Sinn macht, wenn es gelingt, auch den Bogen in die Gegenwart zu spannen, einen aktuellen Bezug herzustellen und damit einen Beitrag zur politischen Bildungsarbeit zu leisten.

Ja, wir trauern um die Opfer von Krieg und Gewalt. Aber wir sind auch verpflichtet mehr zu tun, als andere. Die jüngsten Ereignisse in unserem Land geben größten Anlass zur Sorge,

dass viel zu viele aus der Geschichte nichts gelernt haben. Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sind nicht nur auf dem Vormarsch – sie scheinen langsam salonfähig zu werden. Wenn wir sehen, mit welcher Erbarmungslosigkeit und mit welchem Hass Menschen anderer Herkunft oder anderen Glaubens ausgegrenzt, geschmäht und attackiert werden, so wie das neue Nürnberger Christkind ganz jüngst und ganz in unserer Nähe – dann muss das uns beschämen und wütend machen, dann sind wir zum Handeln aufgefordert.

Die Ursachen für dieses Verhalten sind vielfältig. Aber die Muster erschreckend ähnlich, wenn wir sie auf die Ereignisse zurück projizieren, an die wir im Rahmen des Volkstrauertages erinnern, insbesondere an das Ende des zweiten Weltkriegs. Damals wie heute sind es neben fehlender Empathie und kleinbürgerlicher Enge auch Geschichtsvergessenheit auf der einen und Geschichtsversessenheit auf der anderen Seite, die den Nährboden für die giftigen Blindtriebe bilden.

Nutzen wir die Vergangenheit, damit wir uns unserer Werte versichern, damit wir Orientierung finden,

damit wir solidarisch und in Verantwortung füreinander handeln: nicht irgendwann, sondern hier und heute.

Liebe Gäste und Zuhörer deshalb versuche ich in dieser heutigen Feierstunde in Markt Erlbach, den Bogen zu aktuellen Themen in die heutige Zeit zu spannen. Denn zu den Gräueltaten und Entsetzlichkeiten der beiden Weltkriege, die der Auslöser für diesen Volkstrauertag waren, kann ich nicht einmal aus Erfahrungen meiner Großeltern schöpfen.

Die einzigen Kriegs-Begebenheiten, die ich aus Erzählungen kenne, habe ich bei Jubiläumsbesuchen unserer älteren Mitbürger gehört, von den wenigen, die das Bedürfnis haben oder hatten, darüber zu sprechen. Denn viele konnten und können das Erlebte nur überleben, indem sie es verdrängen.

Es klingt unglaublich und viel zu weit weg, wenn wir Zeitzeugenberichte aus dieser Zeit lesen, hören oder in Dokumentationen im Fernsehen verfolgen. Wir meinen das alles, v. a. die Judenverfolgung und –vernichtung,

die Rassengesetze und Überlegenheit des deutschen Volkes liegen weit zurück. Ja, es stimmt insofern, dass dazwischen fast ein Jahrhundert, ja sogar eine Jahrtausendwende liegt!

Aber haben wir nur ansatzweise daraus gelernt und Konsequenzen für unser eigenes Leben gezogen?

Wie lässt es sich erklären, dass jeder vierte Deutsche heute antisemitisch denkt? Wie ist das möglich, nachdem die wenigsten unter uns tatsächlich einen Juden persönlich kennen?

Es ist unbegreiflich in unserer aufgeklärten und globalisierten Welt, unserer Weltgewandtheit durch Bildung, Medien und Reisen, dass sich so viele Menschen tatsächlich Wortführern der politisch rechtsgerichteten, nationalistischen Parteien und Gruppierungen anschließen.

Viele nicht öffentlich, aber die Wahlergebnisse der letzten Bundes- und Landtagswahlen in ganz Europa sind höchst besorgniserregend.

Christian Wulff, unser Bundespräsidenten a. D., den ich in diesem Jahr beim Landfrauentag in Bad Windsheim hören konnte, hat es sehr treffend formuliert:

„Noch nie ging es einem Land so gut und noch nie war die Stimmung so schlecht“

Ich glaube, dies trifft es sehr gut, was wirklich bei uns los ist.

Der immense Wohlstand, in dem wir heute leben hat uns nicht glücklicher gemacht und auf keinen Fall friedfertiger!

Im Gegenteil, eine große Politikverdrossenheit und eine grassierende Gleichgültigkeit bei zunehmender Ichbezogenheit

verbreiten sich überall.

Es fängt schon im Kleinen und täglichen Umfeld an: Das bei uns in unserer ländlichen Gemeinde übliche Grüßen ist lange nicht mehr selbstverständlich.  Darauf zu warten, dass der Jüngere den Älteren, oder der Herr die Dame zuerst grüßt, das mache ich schon längst nicht mehr.

Ich verfahre nach dem Motto, sei ein gutes Beispiel! Meistens habe ich Glück und der Gegrüßte grüßt  freundlich zurück.

Nicht allzu selten aber ernte ich einen unverständigen Blick, als hätte ich eine unverschämte Bitte geäußert.

Verdrossene Mienen ganztägig und überall!

Denn zu all der Unzufriedenheit bei uns, kommt auch noch ein immerwährendes Misstrauen, das wir allem und jedem entgegenbringen. Wir widern überall Gefahr oder einen Nachteil.

Aber ich komme noch einmal zurück auf die Rede von Christian Wulff:

Er sprach im vollbesetzten Saal des KKC auch über seine schwere Zeit des Rücktritts als Bundespräsident.

Seine Worte haben mich sehr berührt und mich sofort an einen Zeitungsartikel aus dem Jahr 2013 aus der ZEIT erinnert:

„Die gute Tat zählt … Wenn Helden fallen“. Diesen Beitrag von Giovanni di Lorenzo trage ich seit seinem Erscheinen in meinem Terminkalender immer mit, so treffend fand ich ihn, dass ich ihn seitdem dort aufbewahre.

Und Di Lorenzo beschreibt am Fall von Uli Höneß, dem wegen Steuerbetrugs verurteilten Bayern Chef, wie unsere Gesellschaft über Vorbilder denkt, mit welchen überhöhten Erwartungen wir solche Helden überziehen und wie gnadenlos wir diese verdammen, wenn wir sie von ihrem Sockel stürzen wegen eines einzigen Fehlers! Auch wenn die Verfehlungen groß sein mögen und eine Ahndung fordern, so steht die mediale Vernichtungskampagne in keinem Verhältnis.

Medien und deren Konsumenten, also wir, sind nicht  zufrieden, wenn der berufliche Absturz der prominenten Leitfigur erfolgt, sondern die Kampagne wird auf eine rabiate öffentliche Tortur ausgeweitet bis auch der Mensch privat und in seinem sozialen Umfeld auf dem Boden liegt. So im Falle Wulff!

Über den genannten Zeitungsartikel könnte ich noch lange sprechen, aber ich fasse kurz zusammen:

Wir stellen völlig überzogene Erwartungen an Prominente, Politiker und andere Leitfiguren und wahrscheinlich auch an uns selbst.

Dabei sind diese Bevölkerungsgruppen eben auch nur ein Spiegel von uns und unserer Gesellschaft. Es sind Menschen wie Du und ich, mit ihren Fehlern und Macken!

Und, was ich noch viel wichtiger halte und was auch aus diesem hervorragenden Aufsatz in der ZEIT so gut hervorgeht: Wir sollten über keinen Menschen den Stab brechen, nur weil er einen Fehler macht oder gemacht hat. Zählen sollte immer der Mensch mit all seinen Facetten und da hat jeder etwa vorzuweisen.

Diese hohe Erwartungshaltung die wir nicht nur Vorbildern gegenüber haben, sondern auch unserem Nächsten gegenüber, und vor allem auch uns,selbst sind schädlich. Schädlich für uns und unser Miteinander.

Daher kommen die neuen Volkskrankheiten wie Depression, Burnout und andere psychische Belastungssyndrome! Ein zu hoher Erfolgsdruck, nicht nur im Beruf, auch im Privatleben!

Fehler und Fehltritte werden einem Menschen oft lebenslang nachgetragen. Viele von uns tragen eine große Unversöhnbarkeit mit sich herum,

die nicht selten sogar in der eigenen Familie und Verwandtschaft grassiert und über Generationen aufrechterhalten wird.

Auch hier sollte gelten: Die Zeit heilt alle Wunden!

Werden wir immer gewahr, dass unser Leben sehr begrenzt ist!

Ich selbst sage mir oft: „Das Leben ist zu kurz, um dauernd betrübt zu sein und um eigenen Fehlern nachzutrauern, oder um anderen einen Fehler dauernd vorzuhalten.“

Ich bin oftmals etwas gehemmt, wenn in katholischen Gottesdiensten die Aufforderung folgt: „Reicht Euren Nachbarn die Hände, wünscht Euch gegenseitig Frieden!“

Aber genau das ist es: Schließen wir Frieden mit unseren Nachbarn und vor allem und zuerst auch mit uns selbst!

Tragen wir uns unsere Fehler nicht zu sehr nach, sondern sind nachsichtig! Keiner von uns ist jeden Tag in Topform und macht alles richtig.

Wir sind alle fehlbar. Aber wir können uns und unseren Nächsten vergeben.

Das macht uns alle glücklicher, zufriedener und friedfertiger.

Mit diesen Worten möchte ich uns alle daran erinnern, dass wir kleine Menschen, mit kleinen Gesten und kleinen Worten die Welt ein Stückchen verbessern können und somit unseren Beitrag für eine bessere Welt leisten können.

Sehr geehrte Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und komme bitte Sie nun, mit mir  der Toten zu gedenken:

Totengedenken:

 Wir denken heute

an die Opfer von Gewalt und Krieg, Kinder, Frauen und Männer aller Völker.

 Wir gedenken

der Soldaten, die in den Weltkriegen starben, der Menschen, die durch Kriegshandlungen oder danach in Gefangenschaft, als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren

Wir gedenken derer,

die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, einer anderen Rasse zugerechnet wurden oder deren Leben wegen einer Krankheit oder Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde.

 Wir gedenken derer,

die ums Leben kamen, weil sie Widerstand gegen Gewaltherrschaft leisteten, und derer, die den Tod fanden, weil sie an ihrer Überzeugung oder an ihrem Glauben festhielten.

Wir trauern

um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage, um die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung, um die Bundeswehrsoldaten und anderen Einsatzkräfte, die im Auslandseinsatz ihr Leben verloren.

 Wir gedenken

auch derer, die bei uns durch Hass und Gewalt gegen Fremde und Schwache Opfer geworden sind.

Wir trauern

mit den Müttern und mit allen, die Leid tragen, um die Toten. Doch unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern, und unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen zu Hause und in der Welt.

Als Zeichen unseres Gedenkens schmücken wir das Ehrenmal der Gefallenen unseres Marktes mit Kränzen. 

Dr. Birgit Kreß, Erste Bürgermeisterin, 17.11.2019

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